Lineares und nichtlineares Storytelling
Im Zusammenhang mit unseren Kontext Maps sprechen wir oft von nichtlinearem Storytelling – Geschichten, die nicht nur einen Anfang und ein Ende, ein oben und unten haben, sondern viele Richtungen. Aber was ist eigentlich eine Geschichte? Was ist linear und nichtlinear? Und ist eine der Erzählformen besser als die andere?
Die ersten Texte wurden von Priestern auf Tontafeln geschrieben. Da Ton langsam trocknet, schrieben die Priester von links nach rechts, um beim weiteren Schreiben das Geschriebene nicht zu verwischen. Die Buchstaben standen in Linien nebeneinander, darunter kam eine neue Zeile. Anfang und Ende, oben und unten, links und rechts.
Noch heute ist eine Geschichte, so wie wir sie kennen, linear – sie beginnt, sie endet, sie hat eine Spannungskurve. Dabei schreiben wir gar nicht mehr auf Tontafeln, sondern haben Hypertext, Videokameras, VR-Brillen und Smartphones. So wie wir mit unseren Geräten überall hingehen können und durch das Internet mit aller Welt kommunizieren können, können nun auch unsere Geschichten alle zeitlichen, örtlichen und thematischen Richtungen einschlagen.
Können Geschichten überhaupt linear sein?
Nein – sagt Medienwissenschaftler Rainer Leschke, der sich mit nichtlinearem Storytelling beschäftigt hat. Jede Geschichte hat unterschiedliche Tempi, Zeitsprünge, manchmal auch Rückblenden oder Ortswechsel. Linear seien Geschichten nur im buchstäblichen Sinne, in dem Texte eben Linien haben und von oben nach unten gelesen werden. Das Genre Hyperfiction, eine der ersten Formen nichtlinearen, interaktiven Erzählens im Web, sei gescheitert. Die Textbausteine, aus denen sich der Leser eine Geschichte zusammenbasteln kann, müssten sich in Klischees verlieren, damit sich daraus eine verständliche Geschichte ergeben kann.
An dieser Stelle wollen wir definieren, was eine lineare Geschichte für uns ist: Sie hat einen Anfang, ein Ende, eine Mitte und eine Spannungskurve. Meist baut ein Teil chronologisch auf dem anderen auf – man muss das erste Kapitel gelesen haben, um das zweite zu verstehen. Der Leser bzw. das Publikum hat keinen Einfluss auf den Verlauf der Geschichte. Im Gegensatz dazu kann nichtlineares Storytelling an jeden Punkt begonnen werden und ein Thema aus unterschiedlichen Perspektiven beleuchten.
Wofür eignen sich lineare und nichtlineare Geschichten?
Hat eine Story nur einen Protagonisten, spielt sich nur zu einer Zeit oder an einem Ort ab, würde es keinen Sinn ergeben, sie nichtlinear zu erzählen – das würde nur Verwirrung stiften. Nichtlineares Storytelling eignet sich zur Darstellung komplexer Sachverhalte, zum Erzählen von Geschichten, die sich an vielen Orten, zu vielen Zeiten abspielen und viele Protagonisten haben. Besonders sinnvoll ist das nichtlineare Erzählen, wenn nicht nur eine Geschichte erzählt wird, sondern auch harte Fakten eine Rolle spielen. Hier gilt der Design-Leitsatz Form follows function.
Nichtlineares Storytelling im Film (Spoiler Alert)
Bruce Krasting, Banksy-graffiti-street-art-pulp-fiction (7003771177), CC BY 2.0
Lange vor der Erfindung des World Wide Web experimentierten Filmemacher und Künstler wie der Surrealist Salvador Dali mit nichtlinearen Strukturen in Filmen. Bekannte Beispiele für nichtlineares Storytelling im modernen Film sind Quentin Tarantinos Pulp Fiction, der Science-Fiction-Film Inception oder die Netflix-Mysteryserie Dark.
Die Werke arbeiten mit verschiedenen Formen der Nichtlinearität. Die Handlungsstränge in Pulp Fiction erscheinen unabhängig, sind aber durch bestimmte Motive, beispielsweise den Koffer oder die Kleidung der Protagonisten, miteinander verknüpft. Bei Inception hat die Wirklichkeit verschiedene Ebenen (reale Welt, Träume und Träume in Träumen), in denen die gleichen Personen leben. Und bei Dark reisen die Protagonisten durch die Zeit und begegnen sich mehrfach in verschiedenen Lebensphasen selbst, bis irgendwann der Hauptprotagonist gegen sein eigenes späteres Ich kämpfen muss, das die Welt zerstören will.
Filme sind nicht, wie das Web, interaktiv. Die Handlungsstränge sind in diesen Beispielen zwar nicht linear, der Zuschauer kann aber auch nicht in das Geschehen eingreifen. Anders als bei Videospielen.
Gamification
Wenn Geschichten als Spiel erzählt werden, nennt man das Gamification. Bekannt ist diese Erzählform aus sogenannten Adventure Games und Pen & Paper Rollenspielen – Spielen mit wenig Actionelementen und starker Geschichte. Bekannte Beispiele sind das Pen&Paper-Rollenspiel Das schwarze Auge und Videospiele wie The Walking Dead, The Wolf Among Us und Tales from The Borderlands des Entwicklerstudios Telltale Games. Auch der Netflix-Film Bandersnatch, der Teil der Science-Fiction-Serie Black Mirror ist, lässt den Zuschauer Entscheidungen treffen, die sich auf den Verlauf der Geschichte auswirken. Grundsätzlich findet man natürlich auch in vielen anderen (Video-)Spielen mit starker Story und vielfältigen Entscheidungsmöglichkeiten Formen des nichtlinearen Storytellings.
Aber: Auch wenn die Handlungsstränge beeinflusst werden, gibt es einen Anfang und ein Ende, die oft ähnlich oder gleich sind. Die Entwickler wollen eben doch ihre Geschichte erzählen und nicht irgendeine. Sie nutzen die Interaktivität nicht vollständig aus – würde man Rainer Leschke fragen, dann würde er sagen, dass die Geschichte sonst auch nicht gut wäre.
Wie entsteht ein Storytelling-Game? Der Videospiel-Hersteller Telltale Games verarbeitet vorrangig schon vorhandene Stories – ob aus Märchen, TV-Serien oder Egoshootern. Laut Entwickler Job Stauffer beginnt die visuelle Gestaltung der Spiele vielleicht zwei Wochen vor ihrer Fertigstellung – den Rest der Zeit arbeitet das Team an der Story, die sich nicht strikt an der Vorlage orientiert. “Unsere Spiele folgen mechanisch einem bekannten Format, aber alle unser Spiele haben andere Stories, und die Stories sind das Gameplay”, so Stauffer im Interview mit wccftech. Die Stories sind zwar adaptiert, im Grunde aber dennoch lineare Geschichten.
Wahre Geschichten – Journalismus
Journalisten erzählen Geschichten aus dem wahren Leben – und das verläuft, wie wir alle wissen, selten in geraden Bahnen. Die klassische lineare Erzählform im Journalismus ist die Reportage: Ein Protagonist, ein Zeitraum, ein Ort.
Anders beim Feature: Es wechselt zwischen erzählenden und informierenden Elementen, zwischen verschiedenen Protagonisten, Orten und Zeiten. Das Feature ist nichtlinear im gleichen Sinne wie Tarantinos Pulp Fiction, aber nicht interaktiv, es wird auch im Web wie auf Papier gelesen und im Fernsehen von Anfang bis Ende angeschaut.
Im Internet kann man nicht nur zwischen verschiedenen Webseiten hin- und herspringen, sondern auch verschiedene Medien nutzen. Je nach Thema kann eine Geschichte am besten mit Text, Video, Audio oder vielleicht einer Infografik erzählt werden. Hier können die Möglichkeiten einer nichtlinearen Story voll ausgereizt werden – und das werden sie auch.
Jetzt mal her mit den Geschichten!
Es gibt bereits eine Menge multimedialer, interaktiver journalistischer Stories. Beispielsweise das Projekt “Mein Viertel” der LVZ-Volontäre, die jeweils ein Leizipger Viertel mit multimedialem Longread, Panorama-Aufnahmen und Bewohner-Interviews vorstellen. Oder die Story “Migration Trails”, die zwei Flüchtende mittels interaktiver Karten und Social Media-Nachrichten auf ihrer Reise nach Europa begleitet.
The Uber Game (Financial Times) vereint Journalismus und Gamification: der Spieler versetzt sich in die Lage eines Uber-Fahrers, der in einer Woche 1000 Dollar verdienen muss. Das Spiel basiert auf Interviews mit dutzenden Uber-Fahrern. Einen ähnlichen Weg geht “Rebuilding Haiti”, in dem der Spieler nach dem Erdbeben 2010 entscheidet, wie das Land wieder aufgebaut werden soll.
In diese Geschichten kann man tief eintauchen, und plötzlich bleiben auch Digital Natives stundenlang an einer Geschichte kleben – wer sich seine Reise durch die Story selbst aussuchen darf, ist gefesselt.
Viele Geschichten, viele Richtungen
In unserem Magazin auf derkontext.com erzählen wir nicht nur eine Geschichte auf einmal. Viele interaktive und multimediale Features werden zu einem Themendossier. Ein ähnliches – und umfassenderes – Beispiel ist die “Strategic Intelligence” des Weltwirtschaftsforums Davos, das alle Themen, die die Welt verändern, in einen Kontext setzen will. Auch hier bleiben die Leser nicht nur kleben, sondern verstehen ein Thema viel umfassender. Interaktivität macht Spaß, und Spaß hilft beim Lernen.
Doch wir sind noch längst nicht am Ende angelangt. Ob wir jemals durch die Zeit reisen können, bleibt offen (laut Physikern nach aktuellem Wissensstand nicht). Doch durch neue Formate wie Virtual oder Augmented Reality können wir uns auch in der echten, dreidimensionalen Welt bewegen und die Realität mit der virtuellen Welt verknüpfen. Unser Smartphone zeigt uns die Straße, auf der wir gerade stehen, wie sie im Mittelalter aussah oder in fünfzig Jahren aussehen könnte. Wohin darf die Reise gehen? Am besten überall hin!
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