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Visuelle Wahrnehmung: Über „Augenmenschen“ und Sinneshierarchien

Die visuelle Wahrnehmung nimmt 80% dessen ein, was unser Gehirn aufnimmt – Grund genug, sich einmal genauer mit ihr zu beschäftigen.

Der Mensch hat fünf Sinne (Propriozeption nicht mitgerechnet), kann sehen, hören, riechen, schmecken, fühlen, und trotzdem nimmt er fast 80 Prozent seiner Umgebung allein über die Augen wahr (11 Prozent über die Ohren). Der Mensch denkt, träumt, spricht in Bildern. Wer täglich mit dem Smartphone unterwegs ist, sich eher auf Fotos auf Instagram und kurzen Erklärvideos auf Youtube als auf seitenweise Artikel in Zeitungen fokussieren kann, wird dem kaum widersprechen. Das Bild ist zum Basismedium geworden. Seit dem 19. Jahrhundert ist “eine neue Welt des Visuellen” entstanden, schreibt der Historiker Paul Gerhard, bis hin zur Entgrenzung zwischen fiktiver und realer Wirklichkeit. Klar, Technik verändert unsere Wahrnehmung und Aufmerksamkeit.

Der Mensch ist ein “Augentier”, möchte man meinen. Aber das stimmt nicht ganz. Auch wenn viele Fakten dafür sprechen. Denn, dass wir das Visuelle lieben, liegt auch an der Kultur, in der wir leben, an der Sprache, mit der wir aufgewachsen sind. Das haben niederländische Wissenschaftler herausgefunden. Dazu später mehr. Erstmal zurück zur Ausgangsfrage, die bis heute nicht ganz beantworten kann: Warum lieben wir Menschen nun das Visuelle so sehr?

Das Bilderverständnis ist intuitiv

Zum einen, weil wir innerhalb von Nanosekunden Dinge erkennen und deuten können: 60 Prozent der Großhirnrinde, Sitz der höheren Hirnfunktionen, sind ständig mit der Analyse der sichtbaren Welt beschäftigt. Diese 60 Prozent entsprechen etwa einem Viertel unseres gesamten Gehirns.

Die Bilderkennung findet also nicht nur im Auge statt. Die Augen sind bloß Empfänger, sie nehmen Zeichen, Skulpturen, Lichteffekte besser und intensiver wahr, als geschriebener Text, der aus einzelnen Buchstaben zunächst erschlossen werden muss. Weil ein so großer Teil unseres Gehirns mit der Bilderkennung beschäftigt ist, spricht man auch vom “visuellen System” und meint damit die komplex miteinander verschalteten Teile des zentralen Nervensystem. Die Informationen gelangen zwar über das Auge mit Netzhaut, Retina und ihren Sinneszellen, über verschiedene Nervenbahnen ins Gehirn.

Dort findet das eigentliche “Sehen” statt, die visuelle Wahrnehmung. Das Erkennen und Deuten von Gegenständen und Szenen funktioniert durch einen Abgleich mit bereits gespeicherten Erfahrungen, Szenen, die mit Emotionen, Gerüchen, Geräuschen verknüpft sind. Kurz: Bilder sprechen Gefühle und andere Sinne an. Doch wie Zusammenhänge hergestellt werden, ist noch immer wenig erforschtes Gebiet. Darunter fällt auch das Phänomen der Gesichtserkennung. Was Computer aktuell lernen, kann das menschliche Gehirn schon lange. Aber warum wir uns an Gesichter erinnern, sie zuordnen können, gibt Forschern bis heute Rätsel auf.

Wir nehmen Informationen selektiv wahr

Sicher ist, dass Bilder eine ganze Menge Informationen transportieren können. Das weiß auch die Werbebranche: Bilder wurden über die letzten beiden Jahrhunderte aus gutem Grund zu Trägern von Werbebotschaften, sie sagen im wahrsten Sinne mehr als tausend Worte.

Und: Der erste Eindruck zählt. Eine bekannte Studie des Max Planck Instituts für Wirtschaft hat herausgefunden, dass bereits 150 Millisekunden ausreichen, um unterbewusst einen fixen Eindruck von jemandem zu haben. Auch, weil wir täglich mit Informationen überflutet werden. Direkt nach dem Aufstehen, mit dem Sonnenaufgang oder dem Einschalten der Nachttischlampe, erreichen uns über Zehntausende Botschaften. Das Gehirn entscheidet dann schnell, welche Information für uns interessant sein könnte. Wir nehmen nur einen Bruchteil von dem wahr, was uns geboten wird. In einer Studie stellt Microsoft drei unterschiedliche Aufmerksamkeitsmodi in der digitalen Ära heraus: Den “Attention Ninja”, der stark zwischen Aufgaben unterscheidet und so seine Aufmerksamkeit steuert; Den “Attention Pragmatist”, der Aktivitäten bewusst kombiniert; Und den Multitasking-Modus oder “Attention Ambidextrous modus”.

Für die visuelle Wahrnehmung genügen manchmal auch nur einzelne Hinweise. Das Gehirn ergänzt dann fehlende Informationen, um ein möglichst schlüssiges Bild der Realtität zu zeichnen: Eine Person von der Seite wird so zur geliebten Partnerin, die man auch aus der Ferne noch klar zu erkennen scheint. So können unsere Sinne aber auch getäuscht werden oder wir beginnen zu halluzinieren. Nicht immer ist das, was wir sehen, auch Realität. Das ist kein Zeichen einer psychischen Störung, sondern eines gut funktionierenden Gehirns.

Das Phänomen der Synästesie meint wiederum die Verbindung von scheinbar unvereinbaren Sinneswahrnehmungen wie Bild und Ton. So nehmen Menschen beim Betrachtet dieses seilspringenden Strommasts scheinbar eine Art dumpfes Geräusch war, obwohl das GIF stumm ist – spannend:

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Die Hierarchie der Sinnesorgane ist nicht überall gleich

Fünf Kontinente, viele Kulturen. Nicht überall dominieren die Augen die Wahrnehmung so stark wie im deutsch- und englischsprachigen Raum. “Für jeden Sinneskanal gibt es Kulturen, die diese Wahrnehmungen bestens sprachlich beschreiben können und andere, die sich schwertun, sie in Worte zu fassen”, sagt Forscher Asifa Majid. Englisch Muttersprachlern fällt es zum Beispiel leichter über Dinge zu sprechen, die sie sehen und schwerer wenn sie diese nur riechen. Das haben Forscher des Max-Planck-Instituts für Psycholinguistik in den Niederlanden herausgefunden, indem sie Menschen aus 20 unterschiedlichen Kulturen Sinneseindrücke in Form von Bildern verschiedener Formen und Farben, raue oder glatte Texturen zum Abtasten, Gesc,hmacksproben oder Tonfolgen mit verschiedener Höhe, Klang oder Tempo gegeben haben.

Sie wollten herausfinden, ob wichtige Sinne wie das Sehen auch enger mit der bewussten Wahrnehmung und Sprache verbunden sind. Bei der Auswertung haben sie darauf geachtet, ob es bestimmte Begriffe für Farben oder Töne gibt, wer Eindrücke wie umschrieben hat oder besondere Schwierigkeiten dabei hatte. Das Ergebnis: Farsi sprechenden Iraner und Menschen aus Laos konnten beispielsweise am besten den Geschmack ihrer Sprache ausdrücken. In Mali und Ghana fällt es Menschen scheinbar leichter über das Tasten Dinge zu beschreiben, Australier sind hingegen eher “Nasenmenschen” und konnten sich sprachlich am besten über ihren Geruchssinn, einen der ursprünglichsten Sinne, äußern.


Bilder von: v2osk Giu Vicente Stephen Kraakmo Jimmy JAEH