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Schnelles Denken, langsames Denken: Deshalb treffen wir dumme Entscheidungen

In unserem Kopf leben zwei Akteure: Systeme, die alles lenken. Sie nehmen alles um uns herum auf, interpretieren es, treffen Entscheidungen. Eines der Systeme ist klug, überlegt, strategisch und ziemlich faul. Das andere ist zwar nicht das intelligenteste, arbeitet dafür aber ununterbrochen und unermüdlich. Mit dieser Darstellung versucht der Wirtschafts-Psychologe und Träger des Wirtschaftsnobelpreises Daniel Kahneman zu erklären, wie wir Entscheidungen treffen und warum diese manchmal total falsch sind. Die zwei Systeme sind die Basis seines 2011 veröffentlichten Bestsellers “Schnelles Denken, langsames Denken”.

In ihm stellt Kahneman nicht nur seine eigenen Forschungsergebnisse und Theorien dar, sondern auch die von vielen seiner Kollegen, wie den Professoren für Psychologie Keith Stanovich und Richard West, die den Begriff von den zwei Systemen in die Forschung eingeführt haben. Dabei sind System 1 (das schnelle und fleißige) und System 2 (das überlegte aber langsame) nur Metaphern. In Wirklichkeit gibt es sie so nicht. Kahneman nutzt sie dennoch, um Leser*innen leichter verständlich zu machen, wie sie die Welt wahrnehmen und zu Entscheidungen kommen – und wo Fehler geschehen können.

Unsere Welt entsteht im Kopf

System 1 hat die Aufgabe, uns das Leben zu retten. Es entscheidet ununterbrochen, ob wir vor etwas fliehen oder es lieben. Es lässt uns die Hand nach Schokolade ausstrecken und sie zurückziehen, wenn sich eine große, haarige Spinne darauf zeigt. Um das zu können, muss System 1 unsere Umwelt wahrnehmen und alle Informationen einordnen. Dafür fragt es sich unentwegt: Besteht eine Bedrohung? Schaffe ich das alleine, oder brauche ich Hilfe von System 2? Ist etwas überraschend?

Eine Überraschung, eine Abweichung von der Norm, würde von uns fordern, dass wir uns anders als im Normalfall verhalten. Doch dafür muss System 1 erst einmal ein Bild der Normalität erschaffen: Auf Grund von Erfahrungen finden wir es normal, dass man in der U-Bahn nicht raucht, und wären höchst überrascht, in der Frankfurter Innenstadt einem Tiger zu begegnen. Doch diese Bilder von Normalität sind fehleranfällig. Zum einen weil die Realität ganz anders ist, als unsere Vorstellung davon. Zum anderen kann Normalität uns täuschen und etwa Probleme gezielt ausblenden.

Wie viele Tiere von jeder Art nahm Moses mit auf die Arche?

Diese Frage ist so einfach, dass sich System 1 überhaupt nicht anstrengen braucht. Wir antworten schnell und sicher: Zwei. Doch Moses hatte nie etwas mit den Tieren auf der Arche zu tun. Er “lebte” erst nach der Sintflut und war dann eher damit beschäftigt Meere zu teilen, als sie zu überqueren. Der Typ mit der Arche war Noah. Warum haben wir das nicht sofort gesehen? Für jüdisch oder christlich erzogene Menschen (und viele andere) sind Moses und die Arche beide Teil der religiösen Normalität, der „Halt stop, hier stimmt etwas nicht“-Moment bleibt aus, denn System 1 ist ganz zufrieden mit seiner schnellen Antwort. Wäre nicht nach Moses gefragt worden, sondern nach Lady Gaga, wäre System 1 vermutlich skeptischer gewesen. Die Frau im Fleischkleid ist unter popkultureller Normalität abgespeichert, nicht unter religiöser, es kommt zu einem Clash.

Wunderbare Täuschungen

System 1 ist vor allem eins: fleißig. Es arbeitet automatisch, schnell, mühelos und ohne Unterbrechung. Wir müssen es nicht anstupsen und können es auch gar nicht immer. Es erkennt Situationen, liest Emotionen und verarbeitet optische Eindrücke, damit wir wie von selbst an der roten Ampel stehenbleiben. Das Problem dabei: Obwohl wir so sehr auf System 1 angewiesen sind, ist es anfällig für Fehler, besonders für Urteils- und Entscheidungsfehler. Denn System 1 lässt sich leicht täuschen – die Realität passt dann nicht zur abgesicherten Normalität. Eine der vielleicht schönsten kognitiven Täuschungen kommt beim 3D-Film zu tragen. Uns ist bewusst, dass der Film nur zweidimensional ausgestrahlt wird. Dennoch ducken sich im Kino Millionen von Star Wars-Zuschauer*innen vor angreifenden Kampffliegern weg. System 1 ist so gebannt und überzeugt von der Dreidimensionalität der gesehenen Welt, dass wir nicht anders können.

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Albtraum Multi-Tasking

System 2 ist unser Experte für die kniffligen Angelegenheiten. Dazu gehören zum Beispiel Rechenaufgaben, die über das Kleine Einmaleins hinausgehen, Lebensentscheidungen oder eine bissige und geistreiche Bemerkung gegenüber einem Bekannten. System 2 soll die Denkarbeit leisten, die System 1 nicht packt –  ist leider oft viel zu faul.

Aber System 2 ist verdammt gut darin, Dinge zu ordnen – zum Beispiel die Vorstellungen, die System 1 unentwegt fabriziert – oder einen Gang runterzuschalten und sich zu fragen: Ist das alles hier real und wichtig? Außerdem weist es das intuitive System 1 in seine Schranken, das am liebsten seinen Assoziationen und Impulsen folgen würde. System 1 will sich eine Schokolade in den Mund schieben? System 2 erklärt das für unangebracht (etwa weil wir gerade auf einer Beerdigung der Witwe unser Beileid aussprechen) und schreitet ein. Es ist unser Gewissen und unsere Notbremse in sozialen Situationen. Es zwingt uns, auch die nervigsten Nachbarn im Treppenhaus zu grüßen, weil es weiß: Ich bin noch auf die angewiesen, spätestens bei der nächsten Paket-Lieferung, wenn ich gerade nicht zuhause bin.

Wenn System 2 so toll, vernünftig und klug ist, warum trifft es dann nicht alle unsere Entscheidungen? Weil es langsam und ineffizient arbeitet, irrational sein kann und obendrein wahnsinnig viel Energie benötigt. Was okay wäre, wenn wir immer nur eine anstrengende Aufgabe bewältigen müssten. In unserer Realität passieren aber viele Dinge gleichzeitig. System 2 kann nicht multi-tasken.

Während es eine schwierige Rechenaufgabe löst, kann es keiner geistreichen Unterhaltung über Philosophie folgen, geschweige denn dazu beitragen. Und es sollte währenddessen auch nicht mit hundert km/h durch die Innenstadt rasen. Wir müssen uns entscheiden, auf welche Aufgabe wir gerade unsere Aufmerksamkeit lenken wollen (was auch System 2 macht). Dabei übersehen wir allerdings regelmäßig andere, wichtige Ereignisse oder Aufgaben. Ein besonders eindrückliches Beispiel dafür ist das Gorilla-Experiment der Psychologie-Professoren Christopher Chabris und Daniel Simons:

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Eine der häufigsten Ursachen von Fehlurteilen und dummen Entscheidungen ist, dass System 2 einfach gerade nicht (rund) läuft und System 1 dann macht, was es halt so machen will. Eine einfache Möglichkeit, System 2 auszuschalten, ist ihm Alkohol zu geben. Wenn es sich dann langsam verabschiedet, schreit System 1 immer lauter „einer geht noch“, badet selbstgefällig in Gefühlsausbrüchen, findet sich selbst unglaublich witzig und traut sich sogar zu tanzen.

Dumme Entscheidungen müssen aber nicht zwangsläufig mit Drogen zu tun haben. Es reicht auch schon, zur falschen Zeit wach zu sein. Morgenmenschen haben nachts oder am späten Abend weniger Kontrolle durch System 2; System 1 steuert. Und das will Schlafen, ist unhöflich und trifft Entscheidungen, bei denen System 2 sonst ein Stoppschild hochhält. Ein Morgenmensch sollte also nie spät am Abend entscheiden, dass er morgen kündigt. Nachtmenschen geht es ebenso, wenn sie zu früh wach sind – die Morgenmuffel sind geboren.

Ego-Depletion – Leere im Glukose-Tank

System 2 hat nicht nur Probleme mehrere Dinge gleichzeitig zu tun, sondern auch damit, sie lange am Stück zu tun. Es nimmt seine Kraft aus einem Pool, der nicht nur kognitive, sondern auch psychische und emotionale Vorgänge mit Energie versorgen muss. Kahneman stellt fest:

“Selbstkontrolle und bewusstes Denken schöpfen anscheinend aus dem gleichen begrenzten Budget mentaler Arbeitskraft.”

Nach einem langen Arbeitstag oder auch einer emotional anstrengenden Angelegenheit wie einer Trennung, können wir also nicht nur schlechter mentale Höchstleistungen vollbringen, sondern auch schlechter unsere Gefühle kontrollieren. Wir essen zu viel Tiefkühlpizza statt Gemüseteller und liegen auf der Couch statt auf der Yogamatte – wir treffen dumme Entscheidungen.

Wie dramatisch das sein kann, zeigt ein anderes Experiment, bei dem acht israelische Bewährungsrichter*innen bei ihrer Arbeit beobachtet wurden. Insgesamt gaben sie im Durchschnitt rund 35 Prozent der Anträge auf eine „bedingte Entlassung“ nach – allerdings nicht konstant, was statistisch gesehen korrekt wäre. Nach dem Essen bewilligten sie 65 Prozent, kurz vor den Mahlzeiten aber gar keine. Erschöpfung und Hunger haben einen starken Einfluss auf unsere Urteile, selbst wenn wir wissen, wie lebensbestimmend diese unter Umständen sind.

Das Gute ist: Den Energie-Pool können Menschen mit Glukose wieder auffüllen. Egal ob man als Richter*in arbeitet oder sich fragt, ob ein*e Schüler*in wirklich die Fünf in Mathe verdient hat, sollte man vorher gegessen haben, oder zumindest eine Limo trinken.

Wir Faulis

Ein Experiment, das mit Studierenden von den Elite Universitäten Harvard, MIT und Princeton durchgeführt wurde, offenbart ein weiteres Problem, das wir mit unserem System 2 haben.

Die Studierenden wurden vor das sogenannte Schläger-Ball-Problem gestellt:

Ein Schläger und ein Ball kosten 1,10 Dollar.

Der Schläger kostet einen Dollar mehr als der Ball.

Wie viel kostet der Ball?

Mehr als jeder zweite der Studierenden hat ganz klar und intuitiv – falsch geantwortet: zehn Cent. Richtige Antwort: fünf Cent. Das Problem ist dabei nicht die Intelligenz der Studierenden. Ihr System 2 ist einfach nur faul und hat sich gar nicht erst richtig eingeschaltet. System 1 hat deswegen geantwortet und System 1 hat es nicht so mit Logik.

Ähnliches passiert leider auch bei Argumenten und Schlussfolgerungen.

Alle Rosen sind Blumen.

Einige Blumen verwelken schnell.

Deshalb verwelken einige Rosen schnell.

Stimmt diese Argumentation? Die Mehrheit der Studierenden sagte ja – und lag wieder falsch. Kahneman konstatiert:

„Dieses Experiment lässt entmutigende Rückschlüsse auf die Qualität des logischen Denkens im Alltagsleben zu. Es deutet darauf hin, dass Menschen, wenn sie eine Schlussfolgerung für wahr halten, höchstwahrscheinlich auch Argumente glauben, die diese Schlussfolgerung untermauern, auch wenn diese Argumente wenig stichhaltig sind. Wenn System 1 beteiligt ist, kommt die Schlussfolgerung zuerst, und die Argumente folgen.“

Dieser Mechanismus kann tatsächlich beunruhigend sein. Ein Beispiel: Weil manche Menschen so sehr davon überzeugt sind, dass Impfen gesundheitsschädigend ist, glaubt ihr System 1 einer Studie, die besagt, dass Impfen Autismus hervorrufen würde. Obwohl diese bereits direkt nach ihrer Veröffentlichung widerlegt und zurückgezogen wurde und der Arzt, der sie veröffentlichte, sogar seine Approbation verlor. Impfgegner können diese Tatsache jederzeit nachlesen, glauben sie aber nicht.

Kognitive Leichtigkeit – “Ich mach das mal eben alleine”

Manchmal weiß System 1 nicht so recht, wann es System 2 um Hilfe bitten sollte. Ihm fällt einfach nicht auf, dass es sich mit einer schwierigen Aufgabe beschäftigt, obwohl Nachdenken nötig wäre. Wie hoch die sogenannte kognitive Leichtigkeit ist, wird von verschiedenen Aspekten beeinflusst. Was uns Spaß bereitet, fällt uns leichter. Aber auch, was sich bereits häufig wiederholt hat. Es fühlt sich vertraut an. Wörter, die wir schon einmal gesehen oder gehört haben – am besten vor kurzer Zeit – können wir deswegen schneller lesen.

Auch die Art, wie uns etwas dargeboten wird, beeinflusst die kognitive Leichtigkeit. Wir haben weniger Verständnisprobleme, wenn wir einen Satz in unserer Muttersprache hören und nicht in einer Fremdsprache. Uns erscheint wahrer, was ein klares, bekanntes Layout oder Schriftbild hat. Wir glauben schneller Dinge, wenn sie uns auf einer vertrauten Weise präsentiert werden, selbst wenn sie falsch sind, etwa bei Fake News, die auf Websites verbreitet werden, die durch ihre Aufmachung seriös wirken, oder Nachrichtenmedien ähneln. Denn Vertrautheit spricht System 1 an lässt sich daher nicht leicht von Wahrheit unterscheiden.

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Dabei greift noch ein anderer Effekt. Je häufiger wir etwas hören, desto wahrer wird es für uns. Auch das ist ein Mechanismus, der Fake News hilft. Denn selbst wenn Medien die Lügen entlarven, müssen sie dabei die Lügen wiederholen – und schenken ihnen damit wiederum Aufmerksamkeit und Macht.

Selbst wenn die Lüge gar nicht komplett erzählt wird, wird sie glaubwürdiger und vorstellbarer. Es reichen einzelne Bestandteile oder sogar Begriffskombinationen. Neben der Werbeindustrie nutzen das zum Beispiel auch Populisten. „Als Merkel 2015 die Grenzen öffnete“ muss gar nicht mit einem Hauptsatz vervollständigt werden, um zu wissen: „sind die gekommen und haben alles schlechter gemacht.“. Es ist eine Mehrfachlüge, die trotzdem für einige Menschen glaubhaft gemacht wird. Fakt ist: Merkel öffnete keine Grenzen, sie waren schon offen. Ist diese erste Lüge geschluckt, lassen sich die darauf folgenden auch besser schlucken, selbst wenn sie nicht ausgesprochen werden. Das ist der Weg der kognitiven Leichtigkeit.

Die Werbeindustrie arbeitet mit einem Seitenaspekt dieses Umstandes, dem Mere-Exposure-Effekt. Wenn wir etwas nur oft genug hören, bekommen wir einen positiven Bezug dazu. Dieser Effekt verstärkt sich, je weniger System 2 in die Situation involviert ist, etwa weil es gerade damit beschäftigt ist, ein Fußballspiel anzusehen. Die lokale Fußballfrauschaft zu sponsoren, kann für die Kleinunternehmerin also nicht nur ein Prestigeprojekt sein. Die Fans sehen das Emblem ihrer Firma während des gesamten Spiels auf den Trikots der Spielerinnen und bekommen den unterbewussten und diffusen Eindruck, dass die Firma gut ist. Egal ob die Mannschaft gewinnt oder verliert.

Der Priming-Effekt

Wenn wir Wörter oder Töne hören oder Bilder sehen, beeinflusst das, was wir denken und welche Entscheidungen wir treffen. Wer das Wort “eat” vor kurzem gelesen hat, wird bei dem Lückenwort “so_p” “soup” lesen und nicht “soap”. Mit diesem Beispiel erklärt Kahneman den Priming-Effekt. Worte und Umstände bahnen Gedanken auf einem bestimmten Feld den Weg. Besonders eindrücklich zeigt sich das beim “Florida-Effekt”. Bei einem Experiment musste Menschen aus vorgegebenen Worten Sätze verfassen. Eine Gruppe von Proband*innen bekam dabei – anders als der Rest – Worte, die im US-amerikanischen Kontext mit Alter assoziiert sind, wie “Falten”, “grau” oder eben “Florida”. Als die Proband*innen danach über einen Gang zu einem anderen Zimmer gehen mussten, zeigte sich, dass die Menschen, die mit Begriffen über das Alter konfrontiert worden waren, besonders langsam gingen. Ihre Bewegungen passten sich denen von Senior*innen an, weil sie unbewusst in diese Richtung “geprimet” wurden. Das ganze funktioniert übrigens auch andersrum: Wer langsam geht, erkennt Worte aus dem Wortfeld “Alter” schneller und leichter als andere Menschen.

In diesem Fall mag Priming eine amüsante Angelegenheit sein. Doch es kann auch im Politischen genutzt werden und so eine größere Bedeutung erlangen. In Wahlbezirken in Arizona wurde im Jahr 2000 überprüft, welche Auswirkungen der Ort des Wahllokals auf Wahlergebnisse haben kann. Es stellte sich heraus, dass Wähler*innen Ausgaben im Bildungsbereich eher befürworteten, wenn ihr Wahllokal in oder bei einer Schule war. Der Ort hatte sie “geprimet”.

Eine andere Illusion oder Verzerrung, die anhand von Wahlen untersucht wurde, und beweist wie sehr wir uns mitunter von oberflächlichen Umständen beeinflussen lassen, ohne es zu merken, ist der Halo-Effekt oder auch WYSIATI-Effekt. 

Heurististik – Wie war noch gleich die Frage?

Seien Sie jetzt blitzschnell: Wie viel sind Sie bereit, auszugeben, um eine bedrohte Tierart zu retten?

Keine leichte Frage. Und egal, welche Antwort sie geben, sie ist vermutlich nicht die Antwort auf die eigentliche Frage. Denn unser System 1 ist mit komplizierten Fragen überfordert und hat einen Ausweichmechanismus gefunden: Statt der ursprünglichen Frage beantwortet es eine andere, eng damit verbundene Frage, die leichter zugänglich ist, eine heuristische Frage.

In diesem Beispiel aus Kahnemans Buch lautet diese heuristische Frage: “Wie sehr berührt es mich, wenn ich an sterbende Delfine denke?” Die Antwort wird dann von System 1 so angepasst, dass sie auf die Ursprungsfrage passt; aus “Sehr” wird “70 Euro”. Das alles passiert in den meisten Fällen unterbewusst. Trotzdem hätte System 2 noch die Möglichkeit einzuschreiten, doch das tut es oftmals nicht, sondern folgt der Intuition von System 1. Denn noch mal nachzudenken und die Antwort zu korrigieren, benötigt viel Kraft.

Urteilsheuristik – Hast du sein Kinn gesehen?

Heuristik hält auch Einzug in unsere Wahlentscheidungen. Der Psychologie-Professor Alex Todorov beschäftigt sich mit der Frage, wie wir einschätzen, wer vertrauenswürdig und wer potenziell bedrohlich ist. Er erkannte, dass wir zum einen anhand von Gesichtsformen urteilen, wobei ein starkes, kantiges Kinn etwa für Dominanz steht. Auch die Mimik spielt mit: Ein Stirnrunzeln wirkt bedrohlicher als ein offenes Lächeln. Jahrtausende lang war diese Fähigkeit Menschen einzuschätzen lebenswichtig. Und auch heute noch beeinflusst der Mechanismus unsere Entscheidungen.

Todorov bat seine Studierende, Gesichter auf Fotos anhand von Eigenschaften zu kategorisieren. Die Gesichter waren jene von Kandidat*innen von Senats-, Gouverneurs- oder Kongresswahlen in den USA. Dabei zeigte sich, dass die Gewinner der jeweiligen Wahlen in rund 70 Prozent der Fälle die Menschen waren, die von den Studierenden als am kompetentesten empfunden worden waren – obwohl sie ja nichts von den Kandidaten kannten außer ihre Gesichter. Mit ihrer Einschätzung lieferten die Studierenden eine bessere Vorhersage als Sympathieumfragen.

Bei einer genaueren Untersuchung der Gesichter zeigte sich, dass sie vor allem Äußerlichkeiten teilten, die Stärke und Vertrauenswürdigkeit vermittelten. Ein starkes Kinn und ein Lächeln sind offenbar ein Schlüssel zum politischen Erfolg. Bei dieser Form der Urteilsheuristik fragen wir uns nicht: “Vertritt diese*r Politiker*in meine politischen Werte und setzt sie um?”. Stattdessen fragen wir: “Wie freundlich und stark, wirkt diese Person auf mich?”

Zum Glück sind wir nicht alle gleich anfällig für diese politische Form der Urteilsheuristik. Politikwissenschaftler gingen der Sache auf den Grund und fanden heraus, dass politisch informierte Menschen, die wenig fernsehen, drei mal seltener auf ihr System 1 hereinfallen, als politisch uninformierte Menschen, die viel fernsehen.

Have a snack and step back?

Doch was folgt aus all diesen Erkenntnissen? Erstaunlich wenig – denn System 1 ist schnell, einfach, scheinbar effizient. Können wir uns also gar nicht wirklich wehren? Dem widersprach schon Horaz: Sapere aude – Wage es, weise zu sein. Hinterfragen, abwägen, verschiedene Perspektiven betrachten, das Überraschende zulassen, all das führt zu besseren Entscheidungen, denn sie zwingen uns System 2 einzuschalten. Um möglichst kluge Entscheidungen zu treffen, sollten wir versuchen System 1 zu steuern und nicht dem ersten Eindruck folgen. Ausgeschlafen und mit vollem Glucosespeicher, mit Anregung von Außen über die Sachen wirklich nachdenken. Die Übersicht erlangen, um im Detail richtig zu entscheiden … 

Und jetzt Pizza!